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TOD UND EROS BEIM ESSEN

Tod als Erinnerung

Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kreiert noch ein anderes Bedeutungsgeflecht zwischen Mensch und Nahrung, das dem zuvor beschriebenen allerdings nah verwandt ist: Das Prinzip der Erinnerung kann zwar niemals das gesamte Feld von möglichen Rela­tionen zum Essen abdecken, versieht jedoch, da es, wie im Falle Prousts, eine Lebenshaltung charak­te­risiert, jede Mahlzeit mit einem Stempel: Auf Erin­ne­rungspotentiale abgeklopft.


Das flüchtige Glück der Madeleine

In »Combray«, dem ersten Abschnitt Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, reflektiert der Ich-Erzähler über den Genuß einer Madeleine. Nicht eindeutig zu klären ist, in welchem Alter er diesen in eine Tee­tasse getunkten Kuchen zu sich nimmt. Doch gibt der Text den Hinweis, daß das Drama des Zu­bett­gehens sich schon seit Jahren zu einer Erinnerung verdichtet hat. Da er jedoch noch bei seinen Eltern wohnt und von seiner Mutter versorgt zu werden scheint, ist anzunehmen, daß er sich im soge­nannten Jüng­lingsalter befindet. Wie dem auch sei, das Prinzip der Erinnerung ist zumindest schon konstitutiv für sein Erleben. Da die Dinge um uns herum, wie schon erwähnt, immer schneller ihrem Ende entgegengehen, müssen, um Erinnerungen heraufzubeschwören, Ge­ruch und Geschmack be­müht werden. Ob ihrer imma­teriellen Lebendigkeit¹ werden sie von Proust mit einer Lobeshymne be­dacht. Nun sind sie zwar, wie die Dinge, von deren Erinnerungswert man nichts ahnt, unzuverlässig in Hinsicht auf ihre Abrufbereitschaft - »unser Geist bemüht sich umsonst« (63) -, dann aber, wenn wir auf sie stoßen, denkbar präzise und großartig, d.h. entfalten eine ungemeine Pracht. So kann der Ge­nuß einer Speise Glücksgefühle hervor­rufen. Sie bestehen aus dem oft für immer verborgen blei­benden Wert der Erinnerung, die die Stofflichkeit der Speise in sich birgt. Das Ich des Romans be­schreibt genau, was mit ihm passiert, während es »einen Löffel mit dem aufgeweichten kleinen Stück Madeleine darin« (63) zu sich nimmt. Die erwähnten Glücksgefühle stellen sich sofort ein. Ihre Wirkung vergleicht er mit der der Liebe.
Doch anstatt zu genießen, beginnt er zu forschen: Worauf ist sie rückführbar, was bedeutet sie? Deut­lich spürt er, daß die Wahrheit, die er nun zu suchen beginnt - wie ein durch sinnliche Wahrnehmung aus­gelöstes Glücksgefühl unmittelbar eine Wahrheits­suche, »um entscheidende Erleuchtung daraus zu schöpfen« (64), nach sich ziehen kann! - nicht in der Nahrung, sondern in ihm selbst zu finden ist. Sein Geist muß diese Wahrheit finden, denn der Trank verliert schon nach dem dritten Schluck spürbar an Wirkung. So ruft er sich mit Hilfe seiner Einbil­dungs­kraft den Geschmack auf die Zunge zurück, so daß er den anfänglichen Glücksgefühlen wieder näher ist. Bei diesem ersten Anlauf bringt er jedoch noch nicht genügend Konzentration auf, wendet sich also, um den Geist ausruhen zu lassen, seiner Umwelt zu. Beim zweiten Mal spürt er, wie etwas »in großer Tiefe den Anker gelichtet« (65) hat, wie es emporsteigt. Dabei hört er das »Rau­schen und Raunen der durch­messenen Räume« (65). Jetzt kombiniert er schlau, daß es sich wohl um das Bild, die visuelle Erinnerung handeln muß, die zum Geschmack des Tees und der Madeleine gehört. Doch das verschwommene, sche­menhafte Bild gleitet wieder in die Tiefe. Er versucht er noch zehnmal. Jedesmal rät ihm seine Trägheit davon ab. Dann endlich ist die Erinnerung da.
Ihre Struktur als Qualität eines bestimmten Bildes beweist, daß die Gefühle des Glücks keineswegs mit der erinnerten Stimmung korrespondieren. Die Zeit­lichkeit wird also durch diese Verbindung von Ge­genwart und Vergangenheit nicht aufgelöst. Viel­mehr bestätigt und konfirmiert sie das Ich, indem sie seine Geschichte enthüllt. Die Irrelevanz des Bildes nun wird angegeben als Grund für die Mühsal, es em­por­zuhieven. Warum also machten Geruch und Ge­schmack der Madeleine ihn glücklich? Der Text gibt darauf keine Antwort. Vielleicht ist es das in der Stofflichkeit des Kuchens enthaltene Wissen um die Lebendigkeit der Erinnerung, egal welcher, so daß selbst die Asepsis des Zitats, die ihn zu befriedigen scheint, das Original an egozentrisch-wehmütiger Be­stätigung übertrifft.
Dafür spricht, was ihn aufs neue beglückt, diesmal allerdings auf einer durch den Geist sublimierten, von Bewunderung für das Funktionieren der Erin­nerung durchsetzten Ebene, nämlich: wie »be­stän­dig und treu Geruch und Geschmack... in einem bei­nahe un­wirklich winzigen Tröpfchen das uner­meß­liche Ge­bäude der Er­in­nerung in sich tragen« (67). Erin­nerung biete dem Glück ein Refugium. Sie läßt sich jedoch nicht aus den Dingen oder erwähnten Sin­neswahr­nehmungen per Zwang herausdestil­lie­ren. Da­von spricht Proust selbst, obwohl er sich nicht daran hält. So entsteht in ihm diese ver­blüf­fende Mischung aus nonchalantem Abwarten und zäher, ermüdender Gei­stes­arbeit. Sobald nur ein Anflug von selbsttätigem, -ständigem Gefühl über ihn her­ein­bricht, macht er sich mit verbissenem Ei­fer auf die Suche. Ihm scheint die Vergangenheit, darunter ins­besondere die Bilder der Kindheit, durch ihr Glücks­potential auch Wahrheit zu verheißen. Die seligen Augenblicke im Leben des Kindes bleiben nur in gespeicherter, reflektierter und an spätere Erkenntnis gekoppelter, also konser­vierter Form er­lebbar. An ihnen gelte es jedoch festzuhalten, weil sie das »Modell einer Erfahrung, eines Begriffs (stiften), welcher endlich der der Sache selbst wäre, nicht das Armselige von den Sachen Abgezogene«.² Proust beschränkt nun seine Lebensmöglichkeiten auf eben diese individual­ge­schichtlichen Rück­blicke, da einzig sie Authentisch- Unvermitteltes in sich bergen wür­den. Das Essen allerdings weist, wenn es seine geheime Kraft als Erinnerungsträger frei entfaltet, da­bei aber mit oben genannten ideo­logischen Deu­tungsmustern zusam­men­prallt, nur noch auf die Ago­nie des gegenwärtigen Lebens, aufs Dahinschwinden seiner Potentiale hin.
Geruch und Geschmack evozieren mit zuneh­men­dem Alter immer häufiger, jedoch in abnehmender Deut­lichkeit und Prägnanz Bilder der Vergangenheit. So wird der Genuß der Speise reduziert aufs Zitat von Vergänglich- und Vergeblichkeit, auf den Aus­druck der Unfähigkeit, neue Erfahrungen zu machen. Im Moment, wo Geruch und Geschmack eine noch un­be­stimmte Erinnerung identifizieren, ist das vermeint­liche Glück, das sie auslösten, schon zum Ersatz verkommen, denn ihre anfängliche Andeutung reicht Proust nicht aus, muß zwanghaft reflektiert, bis zum Ursprung verfolgt und umge­wandelt, d.h. durch Visualisierung dem Geistigen näher gebracht werden. So verliert sich Gefühl schlechthin in einem Leben als Versuchsanordnung. Auch spontanen Begeg­nungen mit Menschen näm­lich mißtraut er, steht ihnen zumindest skeptisch gegenüber. Sollten sich bei­spiels­weise Frauen ihm widerstandslos und so­gleich hingeben, so brächten sie damit für sein Emp­finden ihre Verwand­lungs­fähigkeit zum Verschwin­den. Ein­zig die schrittweise und gefühlsmäßige Er­oberung weiblicher Objekte läßt er als Stimulans im Bereich erotischer Er­fah­rung gelten. Nur die in Erinnerungen gespeicherte Vielfalt von Meta­mor­pho­sen, die die Auserwählte im Laufe ihrer Bekannt­schaft mit ihm in seinem Geiste durchlaufen hat, versichern auch ihn des kör­per­lichen Genusses an ihr. Nur, wenn er sich zuvor an den Bildern einer gemeinsamen Vergan­genheit zu sättigen vermochte, passen »Geschmack und Duft betrachteter Farben­reize«³ auf dem Antlitz seiner Geliebten sich seinem Begehren an.
An anderer Stelle beschreibt er, als Beweis für seinen großen Einfluß in einem adeligen Hause, daß nur ihm es vergönnt war, neben der obligatorischen Orangeade auch «noch eine Karaffe mit einge­machtem Kirsch- oder Birnensaft zu erhalten« (III, 677). Die Aura um dieses Privileg verteidigt er hef­tig. So würzt er den Genuß dieses Getränks mit ei­ner Assoziation, die willentlich und angestrengt ab­zielt aufs umfassende Erkennen der hinter den Dingen verborgenen Realität: Die Materialität der Flüssigkeit verflüchtigt sich ihm in ihre Geschichte, ihr Gewor­densein, einen Prozeß also, die »Umset­zung der Farbe einer Frucht« (III, 677). Durchs Ein­kochen würde diese Frucht noch einmal zur Jah­reszeit der Blüte zurückkehren. Ausdruck des Be­sonderen und Objekt seiner Genußsucht bleibt also das Destillat des Sinnlichen, quasi ihr durchs Geistige geläuterter Gehalt. Sattzutrinken versucht er sich an seiner Assoziation, also dem Beweis seiner eigenen Ein­maligkeit und Individualität, dem Ausdruck unbe­grenzter Eigenliebe. Gemessen an diesen An­sprüchen allerdings kann ihm unmittelbare Sinn­lich­keit nur schal und wertlos vorkommen.
Im Zusammensein mit Albertine bittet sie ihn um Orangensaft (IV, 195). Zuvor hatte er sie mehrmals geküßt. Überrascht von ihrer plötzlichen Schönheit und ihrem Willen zur Hingabe, phantasiert er ein­fach eine »glückliche Wirkung (des Getränks) gegen ge­wisse Zustände des menschlichen Körpers« (IV, 195). Dies Phantasma stimulierender oder zumin­dest kräftigender Wirkung dünkt ihm fühlbar, weil er erneut im sinnlichen Genuß einen natürlichen Pro­zeß auf­gespürt hat und ihn mitdenkt, die Dynamik des Wachstums nämlich. Vermittelt über einen vor­gestellten und in der Vorstellung schon abgeschlos­senen Vorgang des Werdens erscheint ihm Erin­nerung also auch ein geeignetes Mittel gegen das Versagen und die Langeweile zu sein.
Als Aphrodisiakum sollen ihn die ausgepreßten Oran­gen des »Mysterium(s) (ihres) Reifens« (195) ver­sichern, damit er es für sich übernehmen kann. So vermag er die Prozeßhaftigkeit des innerlich Ange­schauten, der Orangen, zu verwerten als Spie­gel für seine eigene Lebendigkeit. Indem er Natur ausbeutet als Quell von Anschauungen, die sein ei­genes psychisches Funktionieren legitimieren hel­fen, kann ihm auch die »erfrischende Berieselung« (195) durch den Orangensaft »nützlich« (195) wer­den.
Dabei könnten zumindest die wahrhaftigen, d.h. in­dividuellen, unverwechselbaren Anklänge vergan­ge­ner Zeiten in ihrer schemenhaften Undeutlichkeit An­re­gungen darstellen, deren implizite Kraft für neue Erfahrungen verwendbar wäre. Sie ver­mit­telten dann den Eindruck, daß der Mensch noch nicht vollständig besetzt und bedruckt ist, wären Teil einer unge­zwungenen Bewegung, sich von Erin­nerungen, die nur Gerümpel, Ballast bedeuten, zu befreien, ohne sie zu verdrängen.
Werden sie jedoch, wie im vorliegenden Fall, wo die Vergangenheit nicht von selbst sich zur beschrie­benen Grandiosität aufschwingt, nur seziert, unter die Lupe genommen und dann nachträglich glori­fiziert, so lockt das den Tod herbei. Die angesichts einer durch Essen und Trinken sinnlich gefüllten Gegenwart überheblich und anmaßend wirkende Insistenz des Geistes zu forschen, provoziert sein Erscheinen. Nun impliziert zwar jede Erinnerung immer auch das Eingedenken der eigenen Vergäng­lichkeit, führt vor, daß Zeit verstrichen und damit der Tod ein wenig näher gerückt ist, weist mal schmerz­haft, mal liebe­voll, auf Wiederholungen hin. Den­noch sind diese Wirkungen unterschieden von sol­chen, die entstehen, wenn man - wie Proust - Erinnerung zum Lebens­elixier schlechthin erklärt und das Kreisen um sie zum Lebenskonzept ver­dichtet. Diese Ange­strengt­heit läßt ihn zum Vater aller gesellschaftlichen Ver­suche der Jetztzeit er­scheinen, den Zufall auszu­schalten. Obwohl er um ihn wie auch den Tod weiß, ist ihm jede Kontingenz verhaßt. Das Unvor­her­sehbare der Erinnerung, ihre Zufälligkeit, verwehrt ihm den Komfort und die Be­quem­lichkeit, sich die kostbaren inneren Bilder be­lie­big abrufen zu können. Immer bleibt ihr Auf­tauchen fragwürdig. »Der Zufall spielt in diesen Dingen (hier, ob man in den Genuß der Erinnerung gelangt, der Verf.) eine große Rolle, und ein anderer Zufall, nämlich der unseres Todes, erlaubt uns sehr oft nicht, die Gunst jenes ersteren abzuwarten« (Combray, S. 62). Angesichts dieser verkrampften Abwehr spontaner Einbrüche, der Defi­nition des Todes als Räuber von Erinnerung, wird sein Tod sicherlich nicht zufällig sein: Wer, wie das Ich der »Suche«, ein Leben lang gierig darauf lauert, die Erinnerungsfetzen in Geruch und Geschmack von Speisen zu erhaschen und dabei vergißt, neben ihrer im physiologischen Sinn stärkenden Wirkung auch ihre eigenen Genußpotentiale wahrzunehmen, der übertrumpft die Macht des Todes und damit auch den Zufall insofern, als er sich, noch bevor sie ihre Wirkung voll entfalten können, schon zuvor heimlich abtötet.

¹Marcel Proust, Combray, in: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt 1977, S.66
²Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1973, S. 366
³Marcel Proust, Die Welt der Guermantes, in: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, III. Teil, Frankfurt 1982, S. 480